Psychische Störungen. Wer hat das schon?

Noch immer Tabu
Psychische und neurologische Störungen sind auch heutzutage noch immer ein Tabu-Thema. Wie eine aktuelle Studie zeigt, sind knapp 40 von 100 Europäer von einer solchen Erkrankung pro Jahr betroffen.

Besonders häufig treten Angsterkrankungen, Depressionen und Schlaflosigkeit auf. „Es gab lange die Annahme, dass psychische und neurologische Störungen nur das Schicksal einzelner Personen sind. Das ist vollkommen abwegig“, kommentierte der deutsche Studienleiter Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden bei der Vorstellung der Ergebnisse seiner Studie in Paris. Und weiter: „Warum sollte das Gehirn im Gegensatz zum Rest des Körpers gesünder sein, obwohl es um ein Vielfaches komplexer ist als andere Organe?“ Wer es am Magen hat oder eine Erkältung, geht ja auch zum Arzt ohne dass sich jemand darüber wundert. Bei psychischen oder neurologischen „Erkältungen“ werden plötzlich andere Maßstäbe angelegt.

Die Experten schätzen nach der umfassenden Metaanalyse, dass in der EU einschließlich Schweiz, Norwegen und Island 165 Millionen Menschen betroffen sind. Davon leiden 61,5 Millionen an Angststörungen, rund 30,3 Millionen unter Depressionen und 6,3 Millionen haben eine Demenzerkrankung.

Deutlich weniger häufig sind Krankheiten wie Alkoholsucht mit 14,6 Millionen oder Essstörungen mit 1,5 Millionen Betroffenen. Neurologische Erkrankungen wie Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multiple Sklerose wurden hier nicht berücksichtigt. Sie würden die Prozentzahl noch einmal erhöhen, schreiben die Autoren. Allerdings sind Demenzen miterfasst.

Gesundheitssysteme versagen
„Das Besondere an psychischen oder neurologischen Störungen ist, dass sie im Gegensatz zu Stoffwechselerkrankungen oder Krebserkrankungen nur äußerst selten angemessen behandelt werden“, so Wittchen.

Die Datenauswertung zeigte, nur jeder zehnte Patient wird annähernd richtig behandelt. Auch das deutsche Gesundheitssystem, eines der besten weltweit, versorgt nur jeden zweiten Patienten einigermaßen adäquat. Das ist kein Kapazitätsproblem sondern ein Optimierungsproblem: „Würde man die Zuweisung von vorhandenen Ressourcen und die Möglichkeiten optimieren, dann wäre ohne Mehrkosten eine ähnlich befriedigende Situation zu erreichen wie bei Diabetes oder bei Herzerkrankungen“, kommentierte Prof. Wittchen.

Frühzeitige Behandlung kann helfen
Die Forschungsschwerpunkt der vergangenen Jahre lagen auf besonders dramatischen Störungsbilder wie Depressionen und nachfolgende Suizide. Wobei gerade Depressionen sehr häufig durch andere Erkrankungen ausgelöst würden. „Bemerkenswert ist, dass viele Kinder und Jugendliche zwischen dem 5. und dem 18. Lebensjahr unter Panikstörungen, Phobien und generalisierter Angst leiden. Dabei werden die Leiden kaum wahrgenommen. Sie spielen sich im Stillen ab, wie etwa ein Krebs, den man nicht sieht“, erklärte Wittchen.

„Sobald diese geplagten Menschen dann im Beruf und im Privaten Entscheidungen zu treffen haben, sind sie dazu wenn überhaupt aufgrund ihrer Angststörung nur bei großem Leidensdruck dazu in der Lage.“ Der Ausbruch einer Depression ist fast zwangsläufig die Folge, häufig mit Suizidversuch. Diese Störungsentwicklung zieht sich über Jahre hin, weil diese Personen keine frühzeitige Behandlung erfahren. Mit frühzeitigen Untersuchungen könnten viele schlimme Konsequenzen verhindert werden.

Männer und Frauen leiden unterschiedlich
Die Forscher fanden heraus, dass Männer und Frauen etwa gleich häufig unter psychischen Erkrankungen leiden. Allerdings unterschiedlich in der Art der Störungen. Männer zeigten in der Kinder- und Jugendzeit häufig sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und später Suchterkrankungen. Frauen litten zuvor häufiger unter Essstörungen, generalisierter Angst und Depressionen.

Wittchen macht dafür gesellschaftliche Veränderungen verantwortlich. „Die soziale Stress- und Rollenbelastung von Frauen hat in den letzten 30 Jahren deutlich zugenommen. Die berufstätige Frau hat ein höheres Risiko Angststörungen und Depressionen zu bekommen als Männer.“ Bemerkenswert ist die Tatsache, dass bei Männern die Krankheitshäufigkeit durch Heirat gesenkt wird, während es bei Frauen genau andersherum sei.

Die in der Fachzeitschrift „European Neuropsychopharmacology“ veröffentlichten Studienergebnisse basieren auf einer Untersuchung von 2011 und beziehen sich auf eine Gesamteinwohnerzahl von 514 Millionen Menschen in der EU und den zuvor genannten Ländern. Die Studie berücksichtigte mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder. Damit sei die Untersuchung die weltweit erste Studie, die ein nahezu vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasse.