„Alkohol ist ein heißes Eisen“
Alle sieben Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch im Zusammenhang mit Alkohol. Sozialpädagoge Andreas Tremer*, Berater beim „Blauen Kreuz“ in München, über eine unterschätzte Droge.
– Ein Interview zum Thema Sucht –
Herr Tremer, dem gerade erschienenen „Jahrbuch sucht Sucht“** zufolge sind derzeit etwa 3,4 Prozent der Deutschen alkoholabhängig. Weitere 3,1 Prozent sollen Missbrauch betreiben. Wann wird Alkoholkonsum kritisch?
Für echte Sucht gibt es klare Kriterien. Dazu gehört beispielsweise, wenn jemand die Kontrolle über den Konsum verliert, nicht darauf verzichten kann oder den Alkohol zunehmend besser verträgt. Der Unterschied zwischen unproblematischem Trinken und Missbrauch ist hingegen nicht so trennscharf, wie man sich wünschen würde. Wann ein Missbrauch anfängt, ist schwieriger einzugrenzen. Das ist eine Grauzone, die auch uns als Fachleute vor Schwierigkeiten stellt.
Haben Sie ein Beispiel?
Missbrauch ist bereits, wenn jemand auf eine Party geht und mehrere Gläser trinkt, um weniger schüchtern zu sein und lockerer zu werden.
Dann ist das also weniger eine Frage der Menge als der Gründe, wegen derer ich trinke.
Die Konsummenge kann auch eine Rolle spielen – wenn sich jemand gezielt betrinkt, ist das auch schon Missbrauch. Hauptsächlich geht es aber darum, weshalb ich den Alkohol trinke. Alkohol sollte ein Genussmittel sein. Wenn ich ihn benutze, um einen bestimmten Zweck damit zu erreichen, beginnt missbräuchlicher Konsum.
In den letzten Jahren scheint es einen Trend zum Positiven zu geben: Der Pro-Kopf-Konsum reinen Alkohols ist zwischen 2000 und 2012 von 10,5 auf 9,5 Liter gesunken. Zeichnet sich da ein gesellschaftlicher Wandel ab?
Aus Zahlen einen gesellschaftlichen Wandel abzulesen, ist schwierig. Ich glaube eher, dass es bestimmte Präventionsmaßnahmen sind, die jetzt greifen. Dass das Hilfsnetz immer besser wird, beispielsweise. Dass Probleme mit dem Alkohol früher angesprochen werden. Dass auch am Arbeitsplatz, in der Familie, im Freundeskreis die Hemmschwelle sinkt, darüber zu sprechen. Die Konsumkultur ist aber die gleiche geblieben.
Stimmt der Eindruck, dass es normaler geworden ist, keinen Alkohol zu trinken? Wer heute zum O-Saft statt zum Sektglas greift, erntet weniger dumme Sprüche als noch vor Jahren.
Das mag sein. Trotzdem ist Alkohol bei uns kulturell nach wie vor tief verankert, beispielsweise das Trinken zu bestimmten Anlässen. Es gibt gewisse Situationen, in denen ein bisschen mehr Alkohol legitim ist.
Beispiel Junggesellenabschied …
Aber auch ganz alltägliche Situationen. Beispielsweise, das Bier das man zum Schweinebraten trinkt.
Sagen Sie als Münchner.
Im Badischen ist das nicht anders. Nur dass es da das Glaserl Wein ist.
Thema Aufklärung. In Bezug auf das Rauchen ist in den letzten Jahren unglaublich viel passiert. Scheinbar viel mehr als in puncto Alkohol. Stimmt der Eindruck?
Beim Alkohol wird sicher deutlich weniger getan. Alkohol ist in Europa einfach sehr tief verwurzelt. Da gibt es starke Lobbys. Und: Es trinken wesentlich mehr Menschen in einem normalen Maße als Leute rauchen. Von daher ist das ein heißes Eisen, in diese Richtung aufzuklären. Die Leute, deren Alkoholgenuss im Rahmen bleibt, fühlen sich auf den Schlips getreten. Die denken, sie werden mit Alkoholikern in einen Topf geworfen. Auf der anderen Seite erreicht man schlecht jene, die es wirklich betrifft.
Alkoholiker zu sein ist ja nach wie vor mit einer größeren Stigmatisierung verbunden als Raucher zu sein.
Das stimmt. Auch da muss man noch viel tun. Alkoholiker gibt es in allen Bevölkerungsschichten – das ist nicht nur der Obdachlose auf der Parkbank.
Was sollte aus Ihrer Sicht passieren?
Langfristig ist es wichtig, den Leuten wirklich klarzumachen, dass Alkohol süchtig und krank machen kann. Ich leite einen Kurs für junge Menschen, die unter Alkoholeinfluss straffällig geworden sind. 40 bis 50 Prozent der Teilnehmer fragen mich tatsächlich, ob man von Alkohol überhaupt süchtig werden kann.
Kaum zu glauben! Wo kommt dieses Unwissen her?
Das hängt meiner Meinung nach mit der irrationalen Überzeugung zusammen, dass Alkohol im Grunde keine Droge sei. Was so normal ist, kann nicht gefährlich sein.
Herr Tremer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Christiane Fux. Das ganze Interview hier …
*Andreas Tremer ist Sozialarbeiter in der Suchtberatungsstelle des „Blauen Kreuz“ in München
** Jahrbuch Sucht 2014, Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V.