Ein eigenständiges Nervensystem
Hier wird der Nahrungsbrei geschoben und gedrückt, es werden Verdauungssäfte ausgeschüttet, Nährstoffe aufgenommen und Eindringlinge bekämpft – und das alles auf einer beachtlichen Länge von mehreren Metern. Würde man ganz nah in die Darmwand zoomen, könnte man ein zartes Geflecht aus Nervenzellen entdecken, dass wie ein Netz in die Darmwand eingebettet ist und den Verdauungsreigen dirigiert. Was man dann sehen könnte, ist ein eigenständiges Nervensystem: das Darmgehirn.
Darmgehirn – mehr als nur ein Bauchgefühl
Mitten in Ihrem Körper waltet weitgehend unbemerkt eine geheime Schaltzentrale: das Darmgehirn. Dieses komplexe Nervengeflecht ist zu erstaunlichen dingen fähig und es agiert weitgehend unabhängig vom Gehirn.
Identische Grundausstattung
„Gehirn“ klingt in diesem Zusammenhang erst einmal großspurig. Tatsächlich finden sich aber um den Darm mehr Nervenzellen als beispielsweise im Rückenmark. „Auch die Ausstattung mit Botenstoffen ist bei Kopf- und Darmgehirn identisch – sie haben aber nicht unbedingt dieselbe Funktion“, erklärt Prof. Michael Schemann von der Technischen Universität München. Er ist seit vielen Jahren dem Darmgehirn und seinen Aufgaben auf der Spur. „Bei beiden Schaltzentralen – in Kopf und Bauch – sind außerdem die gleichen Nervenzelltypen zu finden“.
Zudem ist das Darmgehirn mit eigenen Kompetenzen ausgestattet: Würde man ein Stück Darm aus dem Körper entfernen und in eine Nährflüssigkeit legen, könnte man beobachten, wie es weiter Verdauungsbewegungen macht – ganz ohne Blutversorgung oder Befehle aus dem Gehirn. Dafür aber sehr ausdauernd: „Unser Rekord im Labor waren acht Tage“, berichtet Schemann.
Kopfgehirn hat letztes Wort
Das Darmgehirn kann also selbstständig agieren, ohne auf Befehle des Gehirns im Kopf warten zu müssen. Und das ist wichtig! Wenn das Kopfgehirn alle Vorgänge im Verdauungstrakt selbst verwalten müsste, müsste es um vieles größer sein, denn das komplexe Zusammenspiel beim Verdauen erfordert einiges an Rechenkapazität.
Das letzte Wort hat aber dennoch das Kopfgehirn, es kann mit den richtigen Botenstoffen die Verdauung zum Stillstand bringen. Sinnvoll ist dies zum Beispiel in Extremsituationen, wo es um Leben oder Tod geht. „Wenn eine Löwin eine Antilope jagt, dann haben beide keine Zeit noch schnell aufs Klo zu gehen“, bringt Schemann die Sache auf den Punkt.
Stetige Berichte ans Gehirn
Bei aller Selbstständigkeit: Zwischen Darm- und Kopf besteht ein reger Austausch – im Kommunizieren ist das Darmgehirn ganz groß. Das sieht man schon an der „Verkabelung“, über die Darm- und Kopfgehirn verschaltet sind. „Circa 80 bis 90 Prozent der Fasern gehen vom Darm in Richtung Gehirn“, erklärt der Biologe. Das bedeutet, das Gehirn wird ausgiebig mit Informationen darüber versorgt, was den Darm so bewegt. Diese Basisinformationen dringen aber in den seltensten Fällen bis ins Bewusstsein vor. Und das ist auch gut so.
Reizdarm – gestörte Kommunikation
Das bekommen Menschen mit Reizdarm oder Reizmagen auf unangenehme Weise zu spüren. „Bei ihnen sind die Nerven so sensibilisiert, dass ihre Botschaften bis ins Bewusstsein rücken und dort als Schmerz wahrgenommen werden“, erläutert Schemann, der genau diese gestörte Kommunikation erforscht. Leider lassen sich aus den gewonnenen Erkenntnissen bisher noch keine therapeutischen Konzepte ableiten – denn es gibt zu viele unterschiedliche Varianten der Syndrome.
Gelehriges Darmgehirn
Eine weitere Gemeinsamkeit von Kopf- und Bauchgehirn: Beide besitzen die Fähigkeit zu lernen. Allerdings ist dies im Darmgehirn nur rudimentär ausgeprägt. Werden etwa Verdauungsbewegungen zu oft hintereinander vom gleichen Reiz ausgelöst – zum Beispiel durch Dehnung – reagiert das Darmgehirn irgendwann nur noch verhalten. Tritt dann allerdings ein anderer Reiz auf, etwa weil etwas die Darmzotten im Darm berührt, agiert das Organ umso stärker.
Je mehr man darüber erfährt, desto mehr ist man versucht, seinem Darmgehirn ein Bewusstsein zu unterstellen: das oft zitierte „Bauchgefühl“, eine Instanz, die uns hilft, Entscheidungen zu treffen. Doch hier zieht der Forscher eine klare Grenze: „Der Darm denkt nicht, denken kann nur das Gehirn im Kopf!“ Auch die berühmten Schmetterlinge im Bauch stammen nicht vom Darmgehirn.
Trotzdem trägt der Darm – und damit das Darmgehirn – zu einem guten Bauchgefühl bei. Geht es ihm gut, fühlen wir uns wohl. Hat er Stress, kann sich das negativ auf das Allgemeinbefinden auswirken.
Beginnen Nervenerkrankungen im Darm?
Wie stark der Zusammenhang zwischen Darm- und Kopfgehirn ist, wird zunehmend klarer. Auch bei Krankheiten, die eigentlich eher dem zentralen Nervensystem zugeschrieben werden. Die Rede ist von autistischen Störungen, Alzheimer oder Parkinson.
So leiden Parkinsonpatienten beispielsweise schon Jahre vor dem Ausbruch der Erkrankung an Verstopfungen. „Man hat sich daraufhin bei mehreren verstorbenen Parkinsonpatienten das Darmgewebe genauer angesehen und entdeckt, dass man auch hier Veränderungen der Nervenzellen vorfindet“, erklärt Schemann. Manche Forscher glauben, dass es eine Art krankmachendes Agens gibt – ähnlich der Prionen – dass vom Darm bis ins Gehirn wandert und dort schließlich die Symptome auslöst.
Darmbiopsie als Diagnostikmethode
Auch bei Alzheimer und anderen Demenzen gibt es Hinweise, dass sich die Krankheiten auch strukturell, also sichtbar, im Darm auswirken könnten. Die Idee ist, dass künftig eine Darmbiopsie Klarheit bringen könnte, ob eine entsprechende Krankheit vorliegt. So könnte vorab bei einem Verdacht auf zum Beispiel Parkinson, das Gewebe im Darm untersucht werden. Der Darm ist schließlich wesentlich leichter zugänglich, als es das Gehirn im Kopf ist – aber noch ist eine solche Form der Diagnostik Zukunftsmusik.
Bis dahin bringen die stetig wachsenden Forschungsergebnisse, die mehr über die Rolle des Darmgehirns verraten, zumindest eines: Mehr Respekt dafür für die Schaltzentrale im Verdauungstrakt und was sie alles leistet.